Der Quedlinburger Ortsteil Quarmbeck, so wie wir ihn heute kennen, ist nicht einmal hundert Jahre alt. Die räumliche Anordnung in der Vorharzlandschaft geht auf eine mittelalterliche Ansiedlung zurück, die als Wüstung verfiel. Ganz in der Nähe fließt der Quarmbach vom Harze her, der ein Stück weiter bei der Schafbrücke in die Bode mündet. An ihm lagen eine ganze Reihe von Mühlen, lateinisch querna, auf die man die seltsame Vorsilbe Quarm… zurückführt.
In den Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts errichteten die Nationalsozialisten an diesem Standort einen Verkehrsflugplatz bzw. Fliegerhorst mit Flugausbildungs-Einheit, der den Namen „Römergraben“ erhielt. Der wohl prominenteste Absolvent hieß Heinz Rühmann. Diese Kasernenbauten sind zweigeschossig mit Satteldächern und Dachgauben. Sie stehen in einem Geviert um einen sehr großen Rasenplatz, der sicherlich auch ein Exerzierplatz war. Außerdem gibt es einen langgestreckten L-Bau in Richtung Osten, der als Lazarett diente, und eine Kommandantur parallel zur Suderöder Chaussee im Westen. An einigen Stellen erahnt man noch „Kunst am Bau“, wie z.B. das Relief der beiden unbekleideten Recken am vorderen L-Bau oder den schmiedeeisernen Äskulap am Balkon des Lazaretts.
Im Zweiten Weltkrieg blieb die Stadt Quedlinburg wie durch ein Wunder vollständig verschont. Aber außerhalb gab es Millionen von Ausgebombten und „Evakuierten“ aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Quedlinburg und sein Ortsteil Quarmbeck bildeten magische Anziehungspunkte und es entstand extreme Wohnungsnot. Hunderte von Menschen wurden allein in Quarmbeck angesiedelt, nun war hier ein Wohngebiet.
Doch dann kam alsbald die Sowjetarmee und benötigte geeignete militärische Standorte im nun aufziehenden Ost-West-Konflikt, dem „Kalten Krieg“! Quarmbeck lag kurz vor der neuen Westgrenze, die direkt am Brocken verlief, der von hier aus gut und deutlich im westlichen Panorama posiert. Also quartierte die neue sozialistische Verwaltung einen großen Teil der in Quarmbeck lebenden Menschen in die umliegenden Ortschaften aus, eine nicht geringe Anzahl von deutschen Bürgern blieb aber auch wohnen. Aus ihnen rekrutierte sich der Stamm der heutigen „Ur-Quarmbecker“, die hier lebten, geboren wurden und starben. Den größten Anteil der ehemaligen Kasernenbauten belegte nun die Sowjetarmee, die hier mit der „Raketen- und Funk-Brigade Brocken“ einzog. Später munkelte man davon, dass hier auch atomar bestückte SS 20 – Raketen stationiert wären. Ich persönlich sah in den 80er Jahren hin und wieder riesige fünfachsige MOASLafetten
mit großen runden Zylindern oben drauf und ansonsten Unmengen von Panzern, deren
dröhnenden Sound man oft tagelang in ganz Quedlinburg hörte.
Zu jener Zeit in der DDR ließ man Quedlinburg verfallen, denn man hatte wenig Geld und es war nicht schick, in Fachwerkhäusern ohne Bad und mit Ofenheizung zu wohnen. Deshalb lebte ein sogenanntes Wohnungsbauprogramm auf, d.h. an einigen Ecken der Stadt wurden Neubaublock-Ansiedlungen in größerem Maßstab errichtet, etwa in der Süderstadt oder auf dem Kleers. Es gab aber auch Solitärlösungen.
Eine davon war Quarmbeck. Die militärischen Objekte wurden zwar abgeschottet, aber die „Muschiks“ gaben sich offen. Quedlinburger zogen nach Quarmbeck oder sie gingen in das
„Russen-Magasin“ zum Einkaufen, denn hier gab es extrem seltene Dinge von der Thunfischbüchse bis zum Nylon-Anorak.
Außerdem hatte sich der Ortsteil inzwischen zu einer wirklich hübschen, sehr grünen Oase
gemausert, mit eigenem Kindergarten und Jugendklub, mit Feuerwehrdepot und Heizkraftwerk, und vor allem mit einem charmanten Kneipchen, der „Quarmbecker Klause“, so richtig im alten DDR-Flair.
Also baute man auch hier ein paar Neubaublöcke her, Drei- bis Fünfgeschosser mit gutem
Harzblick und ganz netten, zentral beheizten Wohnungen.
Dann kamen das Jahr 1989 und die Jahre danach. Die Russen, wie sie nun hießen, wurden bis 1993 abgezogen. Das Bundesvermögensamt übergab den größten Teil Quarmbecks an die stadteigene Wohnungswirtschafts GmbH WoWi, einen etwas geringeren Anteil verkaufte sie an das heimische Unternehmen „Möbel-Brunner“.
Was damals nur einige Kenner der Materie so richtig beachteten und was selbst heute weitgehend unbekannt ist, es existierten auch noch die ehemaligen Rollbahnen, auf denen es später einen sowjetischen Truppenübungsplatz gab. Außerdem besaß die Garnison natürlich einen Bahnanschluss für Panzerzüge und Truppentransporter, der über die sogenannte Dreibogenbrücke verlief, die in der Nähe der heutigen Forellen-Gaststätte „Bückemühle“ liegt. Dieses Gebiet befindet sich mitten in der Feldflur zwischen Suderöder Chaussee und Gernröder Chaussee. Es ist genau einhundert Hektar groß und wegen seiner besonders wertvollen Tier- und Pflanzenwelt ein Naturschutzgebiet. Auch das wurde der Stadt Quedlinburg vom Bundesvermögensamt übertragen.
So weit, so gut – bloß, was damit anfangen? Das hängt vom Blickwinkel des Betrachters ab!
Der erste Quedlinburger Bürgermeister nach 1989 Rudolf Röhricht (Bürgerforum) und der
Geschäftsführer der WoWi Waldemar Cierpincki waren Quedlinburger Urgestein. Sie ließen die Quarmbecker Bausubstanz von Grund auf renovieren und stellten den Einwohnern schneeweiße, warme Alt- und Neubaublöcke zur Verfügung. Dummerweise hatten sie dabei außer acht gelassen, dass gleichzeitig außerordentlich großzügige Sanierungsprogramme für die malträtierte Quedlinburger Innenstadt anliefen, die jetzt ein Welterbe-Highlight der UNESCO werden sollte.
Plötzlich zogen Menschen von Nah und Fern in die schicken, warmen Fachwerkhäuser mit
individuellem Zuschnitt. Quarmbeck geriet ins Hintertreffen! Etliche Quarmbecker zogen in die Kernstadt.
Nach 2000 regierte Dr. Eberhard Brecht (SPD) die Stadt , der GF der WoWi hieß nun Manfred Jäger. Beide waren von Beruf Physiker und zumindest den GF interessierte Quarmbeck gar nicht.
Beide Männer sahen in diesem Vorort eine Geld verschlingende Exklave. Deshalb war der
naheliegende Gedanke: Ausdünnung der Quarmbecker Einwohnerschaft durch Zuzugsstop und Minimierung der Dienstleistungen. Damit erreichten sie, dass es nach mindestens einem Jahrzehnt wesentlich weniger Einwohner gab und etliche Wohnungen leer standen. Doch ihre Amtszeit reichte nicht aus und die alteingesessenen Quarmbecker benahmen sich sehr hartnäckig.
Vor wenigen Jahren betrat nun der Oberbürgermeister Frank Ruch (CDU) die städtische Bühne, der neueste GF der WoWi heißt Sven Breul. Der neue OB argumentiert: Leerstand erzeugt jede Menge unnötige Kosten, die Verknappung von Wohnraum hält die Mieten stabil, außerdem benötigt die Kernstadt Zuzug. Folgerung: Quarmbeck wird komplett abgerissen. Wie eine Fügung des Himmels werden dafür auch noch Fördermittel aus dem Programm „Stadtumbau Ost“ in zweistelliger Millionenhöhe für Jahresende 2016 bereitgestellt.
Endlich im Sommer 2016 wachen die Quarmbecker auf. Insgesamt wohnen noch weit über
einhundert Mietsparteien im Quartier, und zwar auf alle Blöcke verteilt. Manche von ihnen ziehen weg, die meisten aber besinnen sich darauf, hier geboren zu sein und ein Leben verbracht zu haben.
Gute Ideen werden jetzt wieder erweckt: Wäre Quarmbeck nicht eine Traumwohnlage für junge Familien mit Kindern, die hier von Früh bis Spät Picknick und Spiel treiben könnten? Wäre der vordere L-Block nicht das perfekte Biker-Hotel am R1? Sollte man nicht eigentlich den gesamten „Römergraben“ unter Denkmalschutz stellen? Z U S P Ä T ! Im letzten Moment gründet sich eine Bürgerinitiative und die Bewohner proben den Aufstand. Seitdem hängt neben dem Eingang des Ortsteils ein großes rotes Transparent mit der Aufschrift: „Nein zum Abriss! Quarmbeck bleibt!“
Die WoWi hält erst einmal dagegen und schließt die „Quarmbecker Klause“, genau zu deren 25jährigen Existenzjubiläum. GF Breul argumentiert: „Na, sollen wir die etwa Bier ausschenken lassen, bis die Abrissbirne vor der Tür steht?“
OB Ruch gerät in eine leichte Bredouille, denn er möchte eigentlich ein besonders soziales
Stadtoberhaupt sein. Deshalb bietet er an, dass man ja zwei Blöcke stehen lassen könnte, in die dann alle Quarmbecker hineinziehen, und zwar die beiden östlichen an der „Straße des Friedens“: Den L-Bau „Lazarett“ und einen der Fünfgeschosser Neubaublöcke.
Inzwischen gibt es aber eine ganz neue Idee, die hier eingeschoben werden muss. Sie stammt von dem allgemein bekannten Harzer CDU-Wirtschaftsfachmann Ulrich Thomas. Er schlägt vor, die 100 Hektar Quarmbecker Naturgelände zum Industriegebiet zu deklarieren und bringt diesen Vorschlag vor den Stadtrat.
Die Naturschützer halten dagegen, dass es sich hier um ein besonders wertvolles Gebiet handelt, das nicht umsonst den Status „Landschaftsschutzgebiet Nördliches Harzvorland“ erhalten hat. Die Reaktion von Uli Thomas: „Frösche bezahlen keine Gewerbesteuern!“
Die Denkmalschützer weisen auf eine Studie der UNESCO- Leitstelle ICOMOS hin, die
ausdrücklich von einer Bebauung dieser Gegend abrät, da dadurch wesentliche Sichtachsen zwischen Harzrand und Welterbe gestört und somit der Welterbe-Status gefährdet würde.
Die Aussage des oben genannten Fachmanns dazu war: „Paris ist weit! Lasst uns doch einfach bauen!“ Der Quedlinburger Stadtrat folgte diesem weisen Rat, obwohl in der Magdeburger Straße ein riesiges erschlossenes Industriegebiet auf einen Investor wartet!
(Ich war bei all diesen Begebenheiten anwesend!)
Zurück zum Quarmbecker Abriss-Szenario.
Da in einer Bürgerversammlung der Einwohnerschaft, in der erstmals auch ein gewählter
Sprecherrat auftrat, die Politik der Stadt massiv in die Kritik geriet, sah sich OB Frank Ruch veranlasst, ein Grußwort an die Quarmbecker zu richten, nachzulesen in der November-Ausgabe des Quedlinburger Amtsblattes „Qurier“:
In seiner Gesamtverantwortung als OB der Welterbestadt Quedlinburg und auch mit dem Blick für die alteingesessenen Quarmbecker habe er den ursprünglich geplanten Rückbau aller Wohnblöcke in einen Rückbau in Abhängigkeit von der Belegung umgewandelt. Die beiden abgestimmten Wohnblöcke bleiben unbefristet erhalten, falls sie nachweislich eine Belegung von 85 % erreichen.
Damit wird einem Stadtrat-Beschluss gefolgt „Höherstufung des Fördergebietes Quarmbeck (Abriss-Förderung!) in einen umzustrukturierenden Stadtteil mit vorrangiger Priorität.“
Nun wäre es an den Quarmbeckern, sich in allernächster Zeit zum Umzug in die beiden
„auserwählten“ Blöcke L-Bau Lazarett und Fünfgeschosser schriftlich zu bekennen. Unter gewissen Bedingungen werden dafür Umzugshilfen gewährt. Mietvertrags-Befristungen werden aufgehoben und Zuzug aus der Sonstwelt selbstverständlich genehmigt.
Sofort nach Erhalt des Fördermittelbescheides soll eine Bürgerversammlung erfolgen.
„Im Übrigen“, so lautet OB Ruchs Resümee, „wird Quarmbeck gemäß der in der Überarbeitung befindlichen Regionalplanung zukünftig als Stadtteil direkt zur Kernstadt gehören und durch die Anbindung an die Südumfahrung, der geplanten Erschließung von Flächen der gewerblichen und industriellen Nutzung als auch durch den Ausbau des Radweges bis zum R 1 eine Aufwertung erfahren.“ Na, bitte!!
Übrigens: Insgesamt, mit den bereits vor einiger Zeit rückgebauten Blöcken, werden von 17 WoWi- Blöcken fünfzehn abgerissen. Die privaten Blöcke im Süden bleiben stehen. Was die WoWi und der Oberbürgermeister mit der neuen Frei-Fläche vorhaben, konnte selbst ich noch nicht rauskriegen.
In diesem Sinne: Fröhliche Weihnachten bzw. inzwischen Ostern!!
Wie wäre es zwischen den Feiertagen mal mit einem Verdauungs-Spaziergang – nach Quarmbeck!!
Dieser Essay ist eine 1. Fassung und wurde bereits durch den folgenden Teil „Industriegebiet“
fortgesetzt. Wenn Sie Ergänzungen, Berichtigungen oder Meinungen dazu haben, würde ich mich
sehr freuen, wenn Sie mir diese über unsere BFQ-Mailadresse zukommen lassen würden.
Jahrzehnte geplant.Die Wowi war nicht in der Lage,das Wohnen attraktiv zu gestalten,unfähig.Jetzt beim Abriss stellt sich heraus,das jede Menge Schadstoffe im Abriss sind,zu spät. Der grösste Teil der Keller der abgerissenen Häuser ist einfach mit Schutt zugeschoben worden, Schadsoffverseucht.Darüber sollte sich mal der Stadtrat Gedanken machen.